Die Liebe des Guru

Die Liebe des Guru · Swami Sivananda · Wunsch Schicksal Leben

In tiefer Verzweiflung bat der Schüler Ram seinen Guru Premananda um Rat: »Meister, so sehr ich mich auch um Selbstbeherrschung bemühe, so wandert doch mein Geist immer wieder zu den Vergnügungen dieser Welt.«

»Wie oft denke ich daran, Dich, ohne Dir etwas zu sagen, zu verlassen! Aber meine Liebe hindert mich daran einen solch undankbaren und rücksichtslosen Schritt zu tun. Mein Meister, was soll ich tun? Ich bitte Dich, führe mich.«

Als der Schüler Ram seinen Guru Premananda darum bat, war es gerade einen Monat her, dass er in den Ashram (Aufenthaltsort eines Weisen, Zentrum religiöser Studien) seines Gurus eingetreten war.

»Mein Schüler Ram,« antwortete der Guru, »ich habe deinen schweren Kampf beobachtet. Deine tief verwurzelten Wünsche lassen sich nur schwer überwinden. Früchte dich nicht! Geh wieder hinaus in die Welt und führe einige Zeit das Leben eines Hausherrn und befriedige so das starke Verlangen deines Geistes. Richte aber deine Gedanken während dieser Zeit ständig auf unseren Ashram. Verliere nie dein Ziel aus den Augen. Komme nach zehn Jahren zurück und bleibe nicht länger fort von hier.«

Schüler Ram verabschiedete sich daraufhin von seinem Guru, ging in seine Heimatstadt, heiratete und führte ein häusliches Familienleben. Da er seinem Guru mit ganzem Herzen und seiner ganzer Seele gedient hatte, erlangte er auch die Gnade seines Gurus, was ihm großes Glück einbrachte.

Ram erziehlte große Erfolge in seinem Leben. Bald gehörte er zu den wohlhabendsten Bürgern seiner Stadt, hatte eine liebende Frau und liebenswerte Kinder.

Nach zehn Jahre stand ein Bettler vor der Tür seiner Villa. Rams Kinder rannten erschrocken ins Haus und seine Frau überschüttete den Sadhu (Mönch) mit den gemeinsten Beschimpfungen. Der Sadhu aber blieb unbewegt stehen und verlangte den Herrn des Hauses zu sehen.

Ram erkannte seinen Guru sofort. Würdevoll begrüßte er seinen alten Meister und bot ihm den besten Platz in seinem Heim an.

»Nun Ram, die zehn Jahre sind vorbei. Konntest du dein Verlangen inzwischen befriedigen?«

»Ich habe bis jetzt alles genossen, was die Welt zu bieten hat.« antwortete Ram. »Ich wäre auch selbst wieder zum Ashram gekommen, aber ich kann meine kleinen Kinder nicht ohne Fürsorger lassen! Bitte, erlaube mir noch ein paar Jahre zu bleiben, bis sie ausgebildet und selbständig sind. Dann aber komme ich ganz bestimmt zu Dir.«

Weitere zehn Jahre zogen ins Land. Diesmal begrüßte den Sadhu ein altersschwacher Ram. Seine Frau hatte die Welt inzwischen verlassen. Seine Kinder waren alle verheiratet und hatten nun selbst Familien.

»Mein geliebter Guru«, sagte Ram, »es stimmt, ich habe die Pflichten meines häuslichen Lebens nunmehr alle erfüllt. Meine Kinder sind jetzt erwachsen und wohlhabend. Aber sie sind noch jung. Sie machen noch viele Fehler und geben sich den Vergnügungen der Welt ohne Hemmung hin. Auch fehlt ihnen noch jedes Verantwortungsgefühl!«

Weiter sprach er: »Ohne Aufsicht würden sie sicher den schwer verdienten Reichtum ihres Vaters einfach verschleudern. Deshalb muss ich noch ihren Haushalt planen und ihr Tun anleiten. Bitte erlaube mir noch ein paar zusätzliche Jahre zu bleiben, bis sie wirklich erwachsen sind und die volle Verantwortung für ihr Leben und ihre Haushalte selbst übernehmen können. Dann aber komme ich mit zum Ashram.«

Sieben weitere Jahre gingen vorüber. Der Sadhu Premananda kam wieder zu Rams Haus, um nach seinem Schüler zu sehen. Dieses Mal hütete ein großer Hund das Eingangstor des Hauses. Premananda erkannte ihn aber sofort: Es war Ram!

Premananda ging sodann ins Haus und erfuhr, dass der alte Ram bereits vor ein paar Jahren gestorben war. Er war so sehr an die Familie gebunden, dass er nun als Hund wiedergeboren wurde und weiterhin das Haus und seine Kinder hütete.

Premananda trat in den Geist des Hundes ein und sprach zu ihm: »Nun denn, mein Schüler Ram, bist du jetzt endlich bereit mir zu folgen?«

»Sicher, in ein paar Jahren, mein Guru!«, antwortet Ram im Körper des Hundes. »Meine Kinder sind nun auf der Höhe ihres Glücks und ihres Wohlstandes. Aber sie haben viele neidische Feinde. In ein paar Jahren werden sie sicherlich frei von Angst und Sorgen sein. Dann laufe ich mit Dir zu deinem Ashram.«

Wieder gingen zehn Jahre vorüber und der Sadhu kehrte abermals zu Rams Haus zurück. Der Hund war nun ebenfalls verstorben. In seinem intuitiven Erkennen aber sah Guru Premananda, dass Ram jetzt die Form einer giftigen Kobra angenommen hatte und einen eisernen Geldschrank im Haus behütete.

Aus diesem Grund beschloss der Guru, dass nun endgültig die Zeit gekommen sei, den Schüler Ram von seinen Ängsten und Täuschungen zu befreien. Er sagte daher zum Enkel des Ram: »Es liegt eine giftige Kobra neben deinem Geldschrank. Es ist eine gefährliche Kobra. Sei so freundlich und entferne sie von dort. Aber bitte töte sie nicht. Reiß ihr nur die Giftzähne heraus und bringe sie mir dann.«

Der junge Mann staunte nicht schlecht, als er feststellte, dass der Sadhu wirklich die Wahrheit gesprochen hatte. Er rief alle Leute des Hauses zusammen, fing vorsichtig die Schlange und riss ihr die Giftzähne aus. Wie vom Sadhu gebeten, tötete er sie nicht, sondern überreichte sie ihm zahnlos vorm Haus.

Sadu Premananda streichelte der zahnlosen Kobra liebevoll das Haupt, warf sie über seine Schultern und verabschiedete sich von Rams Enkeln. Diese waren hoch erfreut, dass sie vom Sadhu auf so wundersame Weise von der giftigen Kobra befreit worden waren.

Unterwegs sprach der Sadhu nun zur Kobra: »Geliebter Ram! Niemand kann jemals seine Sinne und seinen Geist ganz befriedigen. Wünsche sind oftmals unersättlich. Ehe eine Wunsch verschwindet, tauchen ein Dutzend andere auf. Dein einziger Schutz ist es, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können. Wache daher jetzt endlich auf! Besinne Dich auf das Wesentliche! Wenigsten in deiner nächsten Wiedergeburt solltest du etwas Höheres erreichen!«

»Meister!« weinte Ram in der Schlange bitterlich. »Wie gnädig Du bist! Obwohl ich so undankbar zu Dir war, hast Du mich immer geliebt und im Auge behalten. Und jetzt bringst Du mich sogar zum Ashram zurück. Es gibt sicher nicht viele Menschen auf dieser Welt, die so voll göttlicher und selbstloser Liebe sind wie Du, mein Guru.«

Die Liebe des Guru · Swami Sivananda · Wunsch Schicksal Leben Fabel

Ich gelangte nicht durch mein rationales Bewusstsein zur Erkenntnis der fundamentalen Gesetze des Universums.

Albert Einstein