Die Zauberquelle

Die Zauberquelle ~ Märchen aus England ~ Britannien

Einer armen Witwe waren nach einer Hungersnot nur zwei Söhne geblieben, mit denen sie in einem kleinen, halb zerfallen Haus außerhalb der Stadtmauer ihr Leben fristete.

Täglich konnten sie hier viele Menschen vorüberziehen sehen. Bauern trieben ihr Vieh zum Markt, wandernde Handwerksburschen blieben stehen, um sich den bunt bemalten Torbogen anzusehen und hoch zu Ross trabten manch stolze Höflinge ihres Weges.

Rollte mal eine Kutsche daher, von aufgeputzten Damen besetzt, war sogleich der Älteste mit einem Sprung am Fenster und wie er dann lästerte und sich in Schmähreden über die Reichen erging, soll hier nicht wiedergeben werden.

Er wurde mit der Zeit auch immer fauler und träger. Seine Hände zu regen und durch fleißige Arbeit ein Leben in Wohlstand zu erringen, schien ihm ein unmöglich Ding zu sein. Die Mutter schaute daher besorgt auf ihn, schaffte sie doch unermüdlich, soweit es ihre Kräfte erlaubten, damit das liebe Brot zuhause nicht ausging.

Der Jüngste hingegen unterstützte sie, wo er nur konnte, las im Wald Holz, spaltete und schlichtete es, trug Wasser ins Haus, kurz, er regte sich emsig und blickte dabei auch immer frohgemut aus seinen blauen Augen in die Welt, freute sich des wechselhaften Bildes vor dem Fenster und kannte keinen Neid. Um jenen litt die Witwe niemals Kummer.

Der Winter war zu Ende und mit ihm ging auch der Holzvorrat zur Neige. Also machte sich der Jüngere auf, im Wald nach Ästen zu suchen. Vergnügt sah er auf dem Weg dorthin auf den Äckern die ersten grünen Spitzen der Getreidehalme sprießen, grüßte die jubilierenden Lerchen hoch in den Lüften und lenkte seine Schritte in den Tann.

Bald hatte er genügend Holz gesammelt, band es zusammen und wollte es sich gerade auf den Rücken binden, als er ein Murmeln vernahm, das von einer Quelle herrühren musste. Da er in dieser Gegend schon oft gewesen und ihm nichts dergleichen bekannt war, schaute er verwundert um sich und entdeckte wahrhaftig zwischen Moos und Farn, einen glasklaren Quell von schönen Wackersteinen umfasst.

Die Arbeit hatte ihn durstig gemacht, so er beugte sich und schöpfte mit der Hand das reine Wasser, das ihn köstlich erquickte. Als er sich wieder erhob, stand eine schlanke, wunderschöne Frau vor ihm, durchsichtige zartgrüne Schleier umwehten sie, und sprach mit sanfter Stimme:

»Du musst nicht erschrecken, mein Sohn! Wenn du einen Herzenswunsch hast, so sprich ihn aus, er sei dir gewährt – doch wähle besonnen!«

Da stieg ein Wunsch aus seinem Herzen auf:

»Ich möchte gern allen Menschen Freude bringen!«

Da strich ihm die Frau über Augen und Hände und noch bevor er wieder etwas sagen konnte, war sie verschwunden.

Der Mutter zuhause erzählte er sein Erlebnis mit glühenden Wangen. Und die wusste noch aus ihrer Jugendzeit, dass sich an der Quelle, die man auch »Die Zauberquelle« nannte, manchmal einen Fee zeigen soll. Mit großen Ohren und listigem Sinn stand der große Bruder daneben. Da könnte ich, dachte dieser bei sich, mühelos großen Reichtum erlangen.

Anderntags spazierte er deshalb sogleich am frühen Morgen in den Wald, durchstreifte ihn kreuz und quer, doch besagte Zauberquelle fand er nicht. Auch am folgenden Tag war seine Suche vergebens, er wollte aber nicht nachlassen zu suchen, denn die Habgier hatte ihn erfasst. So ging es zwei Wochen lang, immer morgens verschwand er gleich nach dem Frühstück und kam erst abends wieder nach Hause zurück.

Endlich, am fünfzehnten Tag, war ihm das Glück hold. Vom Murmeln der Quelle überrascht, eilte er schnellstens hinzu, trank hastig einen Schluck des klaren Wassern, welches ihm aber schal zu schmecken schien, und war keineswegs verwundert, als plötzlich die Stimme einer Fee neben ihm erklang:

»Erschrecke nicht, mein Sohn! Wenn du einen Herzenswunsch hast, so sprich ihn aus, er sei dir gewährt – doch wähle besonnen!«

Ohne zu überlegen, rief er sogleich aus:

»Geld, viel viel Geld, damit ich mir alles kaufen kann, was ich begehre und haben möchte!«

Daraufhin sprach die Fee mit ernstem Ton:

»Du wirst jeden Tag zwei Goldstücke in deiner Tasche finden, verwende sie nutzbringend, so soll es dein Segen sein!« Dann war die Erscheinung verschwunden.

Eilends stürzte er nach Hause, fest entschlossen, keinem dieses Geheimnis preis zu geben. Am nächsten Morgen griff er rasch in die Tasche und – tatsächlich, da waren sie – zwei Taler von feinstem geprägten Gold.

Nur schwer unterdrückte er seinen Jubel, machte sich sofort auf in die Stadt, schritt eilends durch alle Gassen, besah die prächtigen Auslagen, bestellte beim Schneidermeister ein prächtiges Gewand für sich und verzehrte im Gasthaus »Zum Ochsen« ein voluminöses Essen.

Mit der Zeit wurde er immer dicker und hochmütiger, da er, wie von der Frau an der Quelle verheißen, stets zwei neue blanke Goldtaler in seiner Tasche vorfand. Schließlich dünkten ihm sogar Mutter und Bruder zu gering, deshalb verließ er sie und kaufte sich ein prächtiges Haus mitten in der Stadt am Marktplatz. Da empfing er alle Tage viele Gäste und lebte in Saus und Braus.

Der Ruf von seinem ständig wachsenden Reichtum verbreitete sich in Windeseile im ganzen Land. In gleichem Maß nahm aber auch seine Hartherzigkeit zu. So verleugnete er jetzt sogar die Seinen und, bat ihn mal Jemand um eine kleine Gabe, verspottete und verhöhnte die armen Leute auf die schlimmste Art.

Glücklich machte ihn sein Reichtum nicht! Große Furcht vor Dieben und Raubmördern machte ihm jetzt das Leben schwer. Und sein Ängste wurden deshalb von Tag zu Tag auch größer, je voller sich seine Geldkästen füllten.

Dem Jüngsten hingegen waren seit jener Begegnung mit der Fee die Augen aufgegangen. Er hatte sich ja immer schon über bunte Farben gefreut und jetzt lernte er diese auch auf eine ganz andere Art und Weise wie früher besser zu sehen. Seine Hände führten nun deshalb einen Pinsel und er begann auf unnachahmliche Art und Weise wunderschöne Bilder zu malen.

Bald waren seine Werke die begehrtesten im ganzen Land, doch zu großem Reichtum führte ihn diese Gabe nicht. Oftmals verschenkte er sogar das eine oder andere Bild an traurige Menschen, nur damit diese ihre Freude wieder fänden. Und wirklich alles schien, was er mit seinen Händen schuf, voll von Leben und von echter Heiterkeit durchdrungen zu sein, so dass nirgends seinesgleichen zu finden war.

Er selbst hingegen blieb trotz seiner Berühmtheit bescheiden und freute sich, dass seine Mutter endlich ihre schwere Arbeit aufgeben und bei ihm ihren Lebensabend verbringen konnte.

Als dann eines Tages dem Raffsüchtigen unter der Last der vielen angehäuften Reichtümer und Schätze das Hausdach über dem Kopf zusammenstürzte und er darunter begraben wurde, weinte ihm kein einziger Mensch eine Träne nach.

Vom begnadeten Maler jedoch erzählten sich viele Menschen immer wieder, deren Leben durch eines seiner Bilder erhellt worden war, schöne Dinge und wie viel Freude er ihnen vermittelt hätte, auch nachdem er schon längst nicht mehr am Leben war.

So hat sich endlich jeder Wunsch der beiden Brüder an der Zauberquelle erfüllt.

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Autor: Märchen aus England

Bewertung des Redakteurs:
4

Jeder Mensch hat bedingt durch das ihm geschenkte Leben sowohl materielle, moralische, und im gewissen Umfang auch religiöse Verpflichtungen, die er zu erfüllen hat.
Aventin