Postkarte für Herrn Altenkirch

Postkarte für Herrn Altenkirch · Barbara Honigmann · Story

Als ich als Dramaturgin nach Brandenburg ans Theater kam, fragte man mich am ersten Tag, ob ich ein Leerzimmer oder ein möbliertes Zimmer haben wollte…

Ein Zimmer, das zu einer Wohnung gehört, die Wohnung gehört einer Familie, und wer immer diese Menschen sein werden, werde ich ihnen dankbar sein, wenn ich die Wärme ihrer Wohnung mit ihnen teilen kann.

Ich zog zu Herrn Altenkirch in die Hauptstraße 7. Er wohnte im Hinterhof, das Haus war nur klein, und die Wohnung war warm. Herr Altenkirch heizte jeden Morgen die Öfen der drei Zimmer: seine «Stube», sein Schlafzimmer und das Zimmer, das er vermietete.

Herr Altenkirch war alt und sehr dünn, und wenn er ausging, setzte er den Hut auf, wie die Männer seiner Generation es zu tun pflegten.

Ich glaube, er lebte schon lange allein dort, ich habe nie erlebt, dass er Besuch bekam, und ein Telefon hatte er auch nicht. Er sagte bei unserem ersten Gespräch zu mir: «Morgens, nach dem Aufstehen, wollen wir immer zusammen frühstücken und uns unterhalten. Da habe ich ein bisschen Gesellschaft».

So taten wir es auch. Beim Frühstück, dass er immer schon vorbereitet hatte, wenn ich aus meinem Zimmer kam, unterhielten wir uns, und da zeigte er mir auch sein Fotoalbum, in das er neben Familienbildern auch Bilder von Künstlern des Theaters eingeklebt hatte.

Zwei von ihnen hatten vor mir bei ihm zur Untermiete gewohnt, eine Schauspielerin und ein Musiker. Der Musiker war lange sein Untermieter gewesen, und später, als er schon nicht mehr in Brandenburg war, hat er von Reisen Ansichtskarten geschickt, die Herr Altenkirch alle aufgehoben und in das Album eingeklebt hatte.

Und als wir sie uns ansahen, dachte ich: Später werde ich auch solche Ansichtskarten an Herrn Altenkirch schreiben, ich werde ihm damit eine Freude machen, denn er ist doch einsam.

Einmal, als ich vom Theater nach Hause kam, merkte ich, dass Herr Altenkirch in der Zwischenzeit meine Schuhe geputzt hatte. Ich sagte ihm, dass er das um Gottes willen nicht tun soll, ich könne doch meine Schuhe sehr gut selber putzen.

Aber er bat mich, ihn zu lassen, es macht ihm Spaß, er hat doch nichts zu tun den ganzen Tag, und er kann auch nicht so lange schlafen und ist jeden Morgen schon ganz früh wach. Schließlich komme ich doch immer so spät in der Nacht von den Proben nach Hause. Da soll ich ihm ruhig meine Schuhe einfach draußen stehen lassen, er putzt sie dann gleich morgens vor dem Frühstück und ich kann sie schon anziehen, wenn ich wieder ins Theater gehe.

Es war mir so unangenehm, mir von ihm, einem alten Mann, die Schuhe putzen zu lassen. Er wollte es aber unbedingt, und so ließ ich es geschehen, da es ihm Freude machte und er stolz war auf die glänzenden Schuhe. Nie wieder in meinem Leben habe ich so glänzende Schuhe gehabt.

Manchmal, wenn ich nachmittags zwischen den Proben nach Hause kam, saß Herr Altenkirch in seiner «Stube» im Sessel und guckte aus dem Fenster. Die Tür zum Flur ließ er immer auf, so dass er mich gleich sah, wenn ich die Wohnungstür aufschloss, und er bat mich dann hereinzukommen, und ich erzählte vom Theater. Oder wir blätterten zusammen in alten Illustrierten, die da wohl schon sehr lange rumlagen.

Manchmal hatte er auch ein Paket aus dem Westen gekriegt, und das packte er dann mit mir zusammen aus und gab mir von den Schokoladenriegeln ab und kochte noch extra einen Nachmittagskaffee.

Aber ich war nur ein kurzes Jahr in Brandenburg, schon vor dem Ende der Spielzeit ging ich vom Theater dort wieder weg. Es hatte viel Krach gegeben, einen Prozess sogar.

Wir waren eine Gruppe, Schauspieler, Regisseur und Dramaturg, die alles anders wollten und der Anführer der Gruppe war nun verurteilt worden zu gehen. Da gingen wir alle mit, aus reiner Solidarität.

Nachher allerdings stand jeder für sich alleine da, hatte nichts, fand nichts und musste schließlich irgendein Engagement annehmen, das sich bot, wo es auch war und was es auch war. Der Anführer der Gruppe zog sich ganz zurück und lebt, soviel ich weiß, heute als Holzfäller im Wald.

Ich zog also wieder weg von Herrn Altenkirch. Ich packte meine Sachen, die ich in seiner Wohnung ausgebreitet hatte, wieder ein, nahm meine Kunstpostkarten von der Wand und verabschiedete mich von ihm.

Er nahm seinen Hut und brachte mich noch bis zur Ecke, hinter der die Straße zum Bahnhof führt. An der Ecke blieb er stehen, und ich ging weiter. Ich drehte mich oft um, der kleine Herr Altenkirch winkte mit dem Hut, bis ich endgültig in den Bahnhof einging.

Und da dachte ich wieder: Ich werde ihm ab und zu eine Postkarte schicken, wenn ich irgendwo unterwegs bin, ein Ansichtskarte, einfach einen Gruß:

An Herrn Altenkirch
18 Brandenburg
Hauptstraße 7

Lieber Herr Altenkirch,
ganz herzliche Grüße aus … sendet Ihnen Ihre …

Inzwischen sind so viele Jahre vergangen. Herr Altenkirch wird jetzt bestimmt schon tot sein, und ich habe diese Postkarte nie geschrieben, ich weiß nicht warum, einfach weil … weil … und weil …

Aber ich muss mir jetzt immer vorstellen, wie Herr Altenkirch zu der Stunde, wenn der Briefträger kam, hinunterging und in seinen Kasten schaute, in dem so selten etwas lag, und wie er hofft, einmal vielleicht von mir eine Ansichtskarte darin zu finden.

Aber er fand sie nie, und wie dann sicher mit der Zeit die Hoffnung langsam schwand, aber die Enttäuschung sicher blieb.

Und jetzt tut es mir weh. Bitte, verzeihen Sie mir, Herr Altenkirch.

Postkarte für Herrn Altenkirch · Barbara Honigmann · Story

Um das Göttliche kennenzulernen, muss man es aus sich zum Bewusstsein bringen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel